Autor: Henri du Vinage
Italien
März 2022
Anfang Oktober 2021. Corona pausiert.
Voller Energie und Freude auf ein bisschen Freiheit und Erlebnisse setzen wir uns ins Auto, geben Gas, hören unsere italienischen Lieblingssongs und speisen das Navi mit dem Ziel: Segonzano, Italien.
Stopp and Go am Brenner, die zahlreichen Baustellen auf den deutschen und italienischen Straßen und die Laster auf der Überholspur vermögen es nicht, unsere euphorische Laune zu untergraben. Zwanzig Kilometer vor der Hauptstadt der Autonomen Provinz Trient holt uns die Fahrassistentin von der monotonen Autobahn herunter. Berg hinauf, Berg hinunter, an Weinbergen vorbei, durch Ortschaften mit schmalen Gassen und auf kaum einsehbaren Straßen rollen wir im Schritttempo weiter. Die Rebberge lassen wir hinter uns, jedoch ist die Vorfreude auf den zu erwartenden Weingenuss nach über zehn Stunden Fahrt unermesslich.
Die enge Hauptstraße fahren wir in den Ort hinein. Die Lady aus dem Navi meldet: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Aber wo ist die Pension? Zwei Minuten später verlassen wir den Ort, wenden und sehen linksseitig Hotel alle Piramidi.
Der Blick aus dem Fenster bei untergehender Sonne, die Wolken, wie mit dem Pinsel hingepudert, die Hügel glänzen in dunkelgrünen Tönen und die Pflanzungen der Weinreben und Apfelplantagen im Valle di Cembra heben sich hellgrün vom restlichen Dunkel ab, um zu zeigen, dass sie etwas Besonderes sind. Auf bis zu 900 Meter ü.NN gedeihen Weinsorten, die auch vor unserer heimischen Haustür wachsen. Müller-Thurgau, Grauburgunder, Chardonnay und Riesling, um nur die wichtigsten zu nennen. Dieser Blick ergreift uns und wir lächeln in unser Glück hinein, bis das ungeduldige Knurren der Mägen uns an das abendliche Mahl erinnert.
Wir betreten den Gastronomietempel des Hauses, welcher einer Betriebskantine gleicht. Ich denke: „Uups, komisch. Vielleicht Corona geschuldet.“ Bedienungen und Gäste verkleiden sich ordnungsgemäß mit den Masken. Wir werden abgeholt und zu einem Tisch begleitet. Eine Menükarte erleichtert uns die Auswahl. „Typisch norditalienisch“, erklärt uns ein deutscher Wandersmann. Auf der Speisekarte stehen Vorspeisen, Hauptspeisen, Desserts und auf dem Selbstbedienungsrondell warten frische Salate und Brot. Einige junge Leute, sportliche Radfahrer und Wanderer, beklagen sich über die kleinen Portionen. Für uns gilt: Es schmeckt, die Menge ist perfekt und ab dem zweiten Tag bekommen wir auch den würzig, fruchtigen Rotwein Mozart von der Marzeminotraube, welche seit dem 15. Jahrhundert im Trentino wächst. Der Name Mozart erscheint uns angeberisch und schnulzig. Das ändert sich schlagartig, als wir vom Hotelchef einen Hinweis erhalten: „Hört euch Mozarts Oper Don Giovanni an und achtet auf diese Passage: Versa il vino! Eccelente Marzimino!“ (Gieße den ausgezeichneten Marzimino ein). Wir halten uns daran.
Zahlreiche Sentieri, Wanderwege, erschließen sich direkt vom Hotel aus, sind ausgeschildert und warten nur darauf, von uns entdeckt zu werden. Die erste Tour führt uns zu den bis 20 Meter hohen Erdpyramiden. Trotz der Schilder finden wir nicht sofort den Einstieg, fragen Passanten und stoßen schließlich oberhalb des Hotels und die Beschilderung. Der Wanderweg führt abwärts durch Wald und Wiesen. In nur 2 Kilometern erblicken wir die hellen, vor 50.000 Jahren entstandenen, goldgelben Steinformationen. Das Erscheinungsbild dieser „Orgelpfeifen“ regt unsere Fantasie an. Die Kegel erscheinen wie Riesen mit Hüten, Steine auf dem Kopf balancierend oder wie Rio de Janeiros Zuckerhut. Holzbänke und -tische laden zum Picknick ein, doch das raue, windige und nasse Wetter treibt uns weiter. Das letzte Stück führt steil abwärts. Der Kiosk ist geschlossen und kein Mensch sitzt auf den Bänken und an den Tischen. Alles ist dicht. Wir erfahren, dass es während der Saison Snacks und Getränke gibt und für die Besichtigung Eintrittsgeld verlangt wird. Die Dunkelheit bricht ein und wir entscheiden uns, den Rundweg nicht weiter zu wandern. Wir kehren um und laufen den bekannten Pfad bergauf zurück.
1494 unternahm der Maler Albrecht Dürer seine erste Gesellenreise nach Italien, um in Venedig von den dort ansässigen Künstlern zu lernen. Die neue Stilrichtung der Renaissance hatte sein Interesse geweckt. Wetterbedingt strandete er in Segonzano, blieb einige Zeit und ... malte. Auf seiner Wanderroute spüren wir ihm nach. Der Dürerweg im Trentino führt von Klösterle St. Florian (St. Florian/Laag 39040 Neumarkt) bis zu den Erdpyramiden und beginnt für uns in umgekehrter Richtung unterhalb des Hotels. Nach einigen hundert Metern verlassen wir den Ort und steigen hinunter in das Tal Cembra. 2,6 Kilometer später erreichen wir das 1216 erbaute Castello di Segonzano. Seit der Plünderung und der Brandlegung von 1796 ist es nicht mehr bewohnt. Die geheimnisvolle Dunkelheit der Burg über dem Tal beeindruckte den Nürnberger Maler so stark, dass er sie als Motiv für ein Aquarell auswählte. Wir klettern auf der Burgruine herum, ergötzen uns am Blick ins Tal, dem Wasserlauf des Avisios, der Wein- und Apfelterrassen und wandern, wie einst Dürer, zwischen den Reben ins Tal herunter bis wir über eine Brücke das Gewässer überqueren. Ein Stückchen weiter treffen wir auf eine verlassene Steinhütte, Bänke, Stühle und Hocker stehen herum. Einige leere Gläser glänzen im Sonnenlicht, aber kein Mensch ist in der Nähe. Schade. Das wäre ein fabelhafter Ort zum Verweilen und zum Träumen.
Einige Kilometer über uns befindet sich die Ortschaft Altavalle (Faver). Die Googlemap weist auf eine Bar hin und wir träumen schon davon, uns dort hinzusetzen, auszuruhen, einen Snack zu essen und ein Getränk zu uns zu nehmen. Wir irren in Faver umher, durchqueren einen Schulhof, laufen am Bürgermeisteramt vorbei, Bürgersteig und Durchgangsstraße werden eins, aber keine Bar, kein Café einfach nichts. Enttäuscht latschen wir zurück, da die nächste Ortschaft Cembra für uns Wanderer zu weit entfernt ist.
Auf dem Rückweg „kehren wir ein“, auf einer Holzbank mit einem traumhaften Blick über die Landschaft. Unser sicherheitshalber mitgebrachtes Sandwich packen wir aus. Das glasklare Wasser, erstanden in einem deutschen Discounter, läuft die Kehle langsam herunter. Herrlich. Das ist der beste Ort zu dieser Zeit. Von hier überblicken wir unseren Weg und finden sogleich eine Abkürzung. Wieder zurück, am verlassenen Haus vorbei, eine Familie fand offensichtlich einen Platz, die Kinder hopsen umher und das opulente Picknick lässt uns neidisch werden. Wir grüßen freundlich, werden aber nicht zur Teilnahme eingeladen. Gleich hinter der Brücke führt ein Wirtschaftsweg der Bauern steil, besser gesagt fast senkrecht in die Höhe. Meine Frau springt, wie ein junges Reh nach oben. Ich quäle mich, wie eine mit Salz gequälte Weinbergschnecke, innerlich und äußerlich dahinschmelzend, auf die Anhöhe. „Pause, Pause, Pause“, krächze ich. Den Hilfeschrei hört niemand. Er bleibt in der Kehle stecken. Also muss ich weiter. „Wir sind gleich da, gleich sind wir da, wir sind gleich da“, stammele ich hypnotisch vor mich hin. Es wirkt. Geschafft.
Das folgende Programm sieht das Abendessen vor: Tagliatelle alla boscaiola (Nudeln mit Tomaten und Champignons), Arrosto di maiale al latte (Schweinebraten mit Milch), Contorni del giorno (warme Beilagen), Insalata mista (gemischter Salat), Panna Cotta – Mozart Marzamino. Übrigens, wir bestellen immer auf Italienisch. Hört sich eleganter an. An der Hotelbar sitzen wir alleine. Wo sind die anderen Gäste? Glücklicherweise ändert sich das in den nächsten Tagen. Wir treffen dort nette Menschen, tauschen Informationen über Wanderrouten, Sehenswürdigkeiten, Verhaltensweisen aus, albern herum und probieren die unterschiedlichen Grappasorten der Region.
Zum Thema Verhaltensweisen fällt mir eine Anekdote in der Hotelbar ein. Am zweiten Abend saßen wir in bester Laune am Tisch, ließen den endenden Tag Revue passieren, planten den folgenden und beabsichtigten, etwas zu trinken. Die Zeit verging, die anderen Gäste tranken, aber uns nahm niemand wahr. Der Chef bediente und amüsierte sich mit den Besuchern am Tresen, nur wir verdursteten und fühlten uns unbeachtet. Schließlich reichte es mir:
„Scheinbar sind wir Hotelgäste für sie unwichtig“, polterte ich los.
„Warum?“ Er lächelte mich an.
„Sie wollen uns scheinbar nicht bedienen!“
„Was möchten sie denn?“ Sein Deutsch war wirklich gut.
„Einen Grappa und einen Averna.“
„Sie können sich hinsetzen. Ich bringe es ihnen.“
Er lächelte höflich: „Bitte sehr. Zum Wohl.“
„Danke“. Ich lächelte nicht.
Zwei Tage später beobachten wir die Szene am Tresen. Und tatsächlich, alle dackeln an die Bar, bestellen und warten, bis der Drink fertig ist. Ich frage jemanden am Nachbartisch, ob das hier so üblich ist. Er bejaht das. Pause. Nachdenken. Oh, wie peinlich. Am nächsten Tag entschuldige ich mich beim Hotelchef. Seitdem sind wir die besten Freunde.
Tipp 1:
Bei Baselga di Piné (20 Kilometer von Segonzano entfernt) wandern wir gemächlich um die Stauseen Lago di Serraia und Lago delle Piazze. Die Region ist die Sommerfrische der Trentiner.
Tipp 2
Trient (ital. Trento) – Landeshauptstadt der Region Trentino
Über die Jahrhunderte erlebte Trient eine wechselhafte Geschichte und wurde dominiert von Kelten, welche die Stadt gründeten, von Römern, Bayern (6. Jh.), Karolingern, Ottonen und anderen Machthabern. Im 20.Jh. übernahm Österreich-Ungarn die Herrschaft, nach dem 1. Weltkrieg Italien, während des 2. Weltkriegs Deutschland und danach Italien als „Autonome Provinz“ mit diversen Sonderrechten. Beispielsweise verbleibt ein Teil der Steuern in der Region und das Schul- und Bildungssystem befindet sich in Trentiner Hand.
Mediterranes Flair im historischen Zentrum, das Castello del Buonconsiglio, Spuren aus der Römerzeit und gastronomische Spezialitäten regen uns auf den Spaziergängen durch die 120.000 Einwohnerstadt an.
App Trentino Guest Card mit vielen vergünstigten und kostenlosen Dienstleistungen, wie z.B. Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel im Trentino.
Die Besuche in Bozen und Meran führten wir an einem Tag durch. Das ist definitiv zu wenig Zeit, aber für einen ersten Überblick reicht es.
Tipp 3
Bozen (ital. Bolzano) – Landeshauptstadt der Region Südtirol
Auf den ersten Blick wirkt Bozen moderner als Trient und Meran. Gründe dafür mögen das Italienisierungsprogramm vom Mussolini-Faschismus sein, sowie die Zerstörungen und Bombardierungen im Laufe des 2. Weltkriegs während der deutschen Besetzung.
Zahlreiche Baustellen in der Innenstadt verstellen uns den Blick zu den Sehenswürdigkeiten und Schönheiten der Stadt. Erst die Bozener Lauben mit den Gewölbegängen, Geschäften und Lichthöfen verstrahlen das Flair einer anheimelnden Kleinstadt. Der Trubel auf dem Markt, das bunte Miteinander von Blumen, Gemüsen, Gewürzen und Menschen zeigen den quirligen Alltag der Einwohner und Besucher. Restaurants, Kneipen und Gaststuben säumen die Seitenstraßen. Wir stellen uns laue Abende und Nächte in geselliger Runde vor.
Tipp 4
Meran (ital. Merano) – Südtirol
Die Stadt mit der stärksten mediterranen Prägung der Regionen Südtirol und Trentino empfängt uns bei azurblauem Himmel und wärmenden herbstlichen Sonnenstrahlen. Das Altstadtbild prägt die 800 Jahre alten Meraner Laubengasse. Eng zusammen stehen beidseitig die Boutiquen, Geschäfte mit kulinarischen Spezialitäten, mit dem letzten Schick der Trachtenmode, Ledertaschen, Hüte, Cafés und Restaurants. Die Stadtbummler sitzen draußen und genießen.
Für Kurgäste, Touristen und Flaneure (wie wir) bietet sich die windgeschützte Promenade am rauschenden Fluss Passer an. Sehenswert die sonnenverwöhnte Gilfpromenade am Wasserlauf. Sind wir in den Tropen? Palmen, Fächerpflanzen, Samambaias und andere Farne wuchern aus der kultivierten Parkanlage.
Christine MARECK-BRUENNLER (Donnerstag, 21 April 2022 20:11)
Sprachlich fantastische Reise-, Wanderfuehrung, ein Genuss zu lese!
Karin (Dienstag, 05 April 2022 20:09)
Lieber Henri,
heute habe ich mir endlich die Zeit genommen, deinen Reisebericht zu lesen. Informativ und lebendig nimmst du deine Leser/innen mit in die Provinz Trient und machst dabei neugierig selbst auf Spurensuche zu gehen.
Wie immer ein Lesegenuss.
Peter Schniz (Dienstag, 05 April 2022 12:03)
Lieber Henri,
herzlichen Dank für deinen informativen,
ausführlichen und stimmungsvollen Reisebericht. Auch die Bilder sind großartig und einladend.
Liebe Grüße
Peter
Reinhold Klein (Sonntag, 20 März 2022 17:31)
Ich habe den Reisebericht mit Interesse gelesen. Die Gastfreundschaft fand ich etwas gewöhnungsbedürftig insbesondere die beschriebenen Situationen im Hotel. Es mag sein, dass vieles auf die Jahreszeit zurückzuführen war.
Peter Engeldinger (Sonntag, 20 März 2022 16:51)
Hallo Henri,
ihr habt Euch wieder einmal übertroffen. Eine schöne Reise und viele Anregungen.
Liebe Grüße Peter
Werner Gollbach (Samstag, 19 März 2022 20:13)
Hallo, lieber Henri, vielen Dank für den sehr interessanten Reisebericht und die die schönen Fotos aus dem Bella Italia. Du hast uns sozusagen auf die Reise mitgenommen und uns die Schönheiten des Trentino und Südtirols miterleben lassen. Nochmals herzlichen Dank.
LG Werner