Dezember 2020
Autor: Henri du Vinage
Am Silvesterabend sitzen die Bundeskanzlerin, der Wirtschafts- und der Außenminister sowie die für Verteidigung zuständige Ministerin bei einem Glas Wein in einer versteckten Ecke ihrer Stammkneipe des Regierungsviertels. Die außerordentliche Sitzung an diesem außerordentlichen letzten Tag des Jahres dauert bis in die Abendstunden und für eine Heimfahrt zur Familie ist es zu spät.
Alle kennen das. Am Tisch um die Ecke unterhalten sich vier unauffällig schwarz gekleidete Herren mit tief dunklen Sonnenbrillen, obwohl nur die Sterne am Himmel strahlen. Sie zupfen immerzu ihre Jacketts glatt, die linksseitig eingebeult, den Blick auf eine Waffe freigeben. Das Silvester Fernsehprogramm zeigt heile Welt, Musik und Tanz und wird nur durch den Evergreen „Dinner For Two“ unterbrochen, und dann wieder heile Welt, Musik und Tanz.
Die Regierungsriege plaudert angeregt, scherzt und schaut manchmal ernst, wohl darauf bedacht, dass niemand zuhört. Die Verteidigungsministerin kramt in ihrer Alditüte und holt, verstohlen um sich blickend, ein Tischfeuerwerk hervor. „Davon habe ich noch mehr“, und übergibt verschmitzt grinsend Feuerwerk und Streichhölzer an ihre Mitstreiter. „Kommt, wir spielen jetzt mal Afghanistan.“ Der Kanzlerin ist das peinlich: „Ach komm. Nee. Du warst doch gerade erst dort.“ Wirtschafts- und Außenminister sind sich selten so einig: „Doch, doch, gib noch ein paar von den Dingern her.“ Militärisch ordentlich und strategisch durchdacht platzieren sie die Knaller auf dem Tisch. „Frau General. Feuer!“ In der Hand der Bundeskanzlerin flammt das Streichholz auf, der Anzünder des Feuerwerkskörpers spuckt Funken und peng, fliegt der Deckel des Knallkörpers in die Luft, Glitzerteilchen wirbeln umher und bunte, runde Papierteile, wie fein säuberlich vom Blattlocher ausgestochen, schwirren auf den Tisch. Die Anderen halten sich vor Lachen den Bauch. Ungebremst feuern sie ebenfalls ihre Geschosse ab. Die Sonnenbrillentypen springen auf und stehen mit den Waffen im Anschlag am Regierungstisch. „Meine Herren. Keine Panik. Wir spielen Afghanistan oder sind wir schon in Somalia?“, scherzt die Kanzlerin. Die Verteidigungsministerin krümmt sich vor Lachen. Die Augen des Wirtschaftsministers glänzen und blitzen einige Male auf und grinsend prahlt er: „Kollegen, wir können Stolz sein. Noch nie zuvor haben wir so viele friedenbringende Waffen in die Welt verkauft. Der blöde Orban bekommt diesmal das meiste Zeug, dann kommen die Ägypter, Korea und selbst die Amis finden unsere Waffen klasse. Die brauchen sie für die Regimechanges in Lateinamerika“.
„Kommt wir spielen weiter“, ruft aufgeregt die deutsche Verteidigung. „Wir spielen die Bekämpfung der Familienbanden in Berlin“, und holt vier Zündplätzchenrevolver aus der Plastiktüte. Beim Anblick der gefährlichen Waffen entfährt es dem sachkundigen Wirtschaftsminister: „Auch die Ausfuhr unserer Kleinwaffen hat sich verdoppelt. Die sind sehr beliebt im Einsatz gegen die Drogenbanden und andere Organisationen. Ich weiß jetzt nur nicht genau, welche Organisationen die Waffen einsetzen“. Es knallt, blitzt und donnert. Selbst ein Kindergeburtstag wäre dagegen eine Trauerfeier und im Freudentaumel kriecht die Regierung unter den Tisch, um sich vor den IS-Kämpfern zu verstecken. Es ist Mitternacht und draußen wird geschossen. Eine rote, eine grüne, eine blaue Rakete, Kanonenschläge donnern an die Fenster und Türen, Kometen fliegen vorbei, eine Detonation, ein Bombenknall, die Scheiben hinter dem Regierungstisch zerbersten. Die Bodyguards pfeffern ihre Zigaretten auf die Terrasse, springen herein und feuern wie besessen in die Luft, bis der Außenminister sein weißes Tempotaschentuch aus sicherer Deckung hin und her schwenkt. „Aufhören, aufhören wir sind hier, unter dem Tisch, unbewaffnet.“
Alle erheben sich, der Schweiß steht auf der Stirn, die Augen sind glasig, die Krawatte des Wirtschaftsministers ist zerrissen, die Knöpfe des Sakkos der Kanzlerin hängen an langen Fäden schlapp herab, der Wirtschaftsminister sucht nach seiner Brille, denn ohne sie ist er quasi blind und die Verteidigungsministerin hat ihren Kuhstall offen. „Ich wusste es. Ich wusste es“, ruft der Außenminister. „Jetzt habe ich die Lösung. Wir brauchen mehr Waffen, um die Welt zu befrieden. Habt ihr bemerkt, wie machtlos wir unter dem Tisch waren. Das war wie in Afrika, in Syrien oder sonst wo. Da brauchst du Hilfe. Zum Beispiel von der neuen „Europäischen Friedensfazilität“, dem geplanten EU-Fonds für militärische Ausbildung und Ausrüstung in Drittstaaten. Da liefern wir Waffen und Know-how an die Freunde Europas. Was zerstört wird, bauen wir wieder auf, einige Sektoren privatisieren wir, natürlich in der Qualität unserer weltweit führenden Industrie.“ Die Kanzlerin unterbricht: „Aber warum heißt das Friedensfazilität. Das müsste doch Kriegsfazilität heißen?“ Der Wirtschaftsminister findet klärende Worte: „Ja, aber das können wir dem Volk so nicht erklären. Frieden hört sich viel besser an.“ Alle nicken.
Die Kanzlerin und die Ministerriege toasten sich ausgelassen zu und feiern ihre Internationalität. Sie erzählen von den Reisen um den Globus, die netten Geschenke, welche sie im Namen der Gastgeber erhielten. „Prost Freunde. Auf unsere friedliche Welt“, ruft der Außenminister, hebt seinen Ouzo, die Verteidigungsministerin, die von ihren Erlebnissen aus der Türkei berichtet, gurgelt: „Prost“ und leert das Glas Raki mit einem Schluck. Bundeskanzlerin und Wirtschaftsminister kommen nicht so schnell hinterher, doch finden Anschluss mit irischem Whiskey und amerikanischem Bourbon, ein Geschenk von Donald, wie die Chefin betont. „Auf unsere friedliche Welt.“