Autor: Henri du Vinage
April 2017
Deutschland
Neuzeit und Historie, Demokratie und Diktatur, Aufbau und Zerstörung.
Ein Gebäude, Zentrum der Macht, Zeitzeuge, bittet uns das Volk, hereinzukommen und Platz zu nehmen.
Mit der S-Bahn mache ich mich von Potsdam auf den Weg zum Reichstagsgebäude im Berliner Bezirk Tiergarten. Freunde empfehlen mir, das Auto im Hotel zu lassen und stattdessen mit Bus und Bahn zu fahren. 45 Minuten Fahrzeit versprechen sie mir. Ich tucker gerne durch die Stadt, durch Gegenden im ehemaligen Westteil, die mir von früher noch bekannt sind. Ich kam in Berlin zur Welt und erlebte drei Jahrzehnte in der geteilten Metropole. Da kommen so einige Erinnerungen hoch. Mauerbau, den ich als Sechsjähriger im Urlaub mit meinen Eltern in Dänemark, mitbekam. »Ihr könnt nicht mehr zurück«, wurde uns geraten. Erlebnisse im Kindergarten und Einschulung fallen mir ein. Die frische Milch kaufte ich jeden Morgen vor Schulbeginn bei Bolle. Die ersten Zigaretten wurden heimlich auf dem Schulweg in den Laubenkolonien gepafft. Das gab Ärger. Die Erwachsenen rauchten noch überall und die Laubenkolonien gibt es schon lange nicht mehr. Die Zeiten haben sich geändert.
Der Zug hält am S-Bahnhof Zehlendorf. Das war der Umsteigebahnhof, um zum Sport oder Gitarrenunterricht zu kommen, und galt als Hoheitsgebiet der DDR. Der Bahnhof sieht immer noch genauso verrottet aus. Nur der Prickel-Pit-Automat fehlt.
Aus den Tagträumen erwacht und nach zweimaligen Umsteigen und 90 Minuten Fahrzeit erreiche ich den Bahnhof Brandenburger Tor. Wenn die Sonne schiene, würde mich das Brandenburger Tor anstrahlen. Das graue Wetter deutet eine Neigung zum Regen an. Ich marschiere durch das von Touristen umlagerte klassizistische Tor. 1734 stand an dieser historischen Stelle ein Stadttor, an der Straße nach Brandenburg. Mit der Neuerrichtung, Ende des 18. Jahrhunderts, setzte sich Friedrich Wilhelm II. ein Denkmal. Die äußere Gestaltung orientierte sich an den griechischen Propyläen, dem typischen Torbau der Antike.
Nach einem fünfminutigen Fußweg stehe ich vor dem »Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma«. Ich halte hier ein, der Reichstag ist in Sichtweite, nur einige hundert Meter entfernt und gedenke der 500.000 ermordeten Sinti, Roma, Lalleri, Lowara, Manusch, Jenische und anderen fahrenden Völkern. Irgendwie, durch die Liebe zum »Gypsy Jazz«, fühle ich mich zu jenen Menschen hingezogen. Ein Brunnen erinnert an die Qualen dieser Völker. Auf dem Brunnenrand lese ich Santino Spinellis Gedicht »Auschwitz«: »Eingefallenes Herz, erloschenen Augen, kalte Lippen, Stille, ein zerrissenes Herz, ohne Atem, ohne Worte, keine Tränen«. Auch der Himmel weint. Ein starker Regenguss prasselt nieder und ich suche Schutz.
Die Eintrittskarten für die Führung im Reichstag besorgte ich Wochen vorher im Internet. Kostenlos. Jetzt stehe ich vor den Sicherheitscontainern und will herein. Ich bin zwanzig Minuten zu früh und die Security schickt mich zurück in den Regen. Einige Meter entfernt demonstriert eine Gruppe kurdischer Männer und Frauen gegen die türkische Politik.
Pünktlich gehe ich zurück zur Sicherheitskontrolle in die Container. Das funktioniert reibungslos und schnell. Jedoch unverständlich. Da wird für 600 Millionen DM das Gebäude vom britischen Stararchitekten Sir Norman Foster umgebaut, 1999 an die Politiker übergeben und die nationale und internationale Besucherschar wird bis zum heutigen Tag in provisorischen Containern abgefertigt. Kann sich die Bundesrepublik nicht professioneller präsentieren? Ein schwaches Bild für das meistbesuchte Parlament der Welt und die meistbesuchte Sehenswürdigkeit Berlins. Drei Millionen Besucher werden hier jährlich durchgeschleust.
Planmäßig wird die Gruppe in das Gebäude begleitet, nochmals Sicherheitskontrolle und warten auf den Guide. Der Architekt Paul Wallot erbaute den Reichstag, das Parlament, von 1884-1894 um der immer größer werdende Anzahl der Abgeordneten nach der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 gerecht zu werden. Auch nach der Konstituierung der Weimarer Republik wurde das Gebäude als Parlament genutzt. Die bis heute ungeklärte Brandstiftung des Niederländers Marinus van der Lubbe, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, stoppten die politische Arbeit in diesem Bauwerk für viele Jahrzehnte. Die Nationalsozialisten nutzten die Tat, um ihre Schreckensherrschaft zu installieren. Einen Tag später rollte eine Verhaftungswelle über das Land. Politische Widersacher wurden verhaftet, angeklagt und wegen Hochverrat zum Tode verurteilt. In einem politischen Schauprozess wurde der geständige van der Lubbe verurteilt und 1934 hingerichtet. Ob er der Täter war, es Mittäter oder Hintermänner gab, wurde nie geklärt.
1945 eroberte die sowjetische Armee das Gebäude. Freigelegte Graffiti russischer Soldaten sind als historisches Dokument erhalten. In den neunziger Jahren wurden diese zeitgeschichtlichen Inschriften, die bis dahin hinter Gipsplatten und Holzabdeckungen versteckt waren, entdeckt. Obwohl Architekt Foster die Schriften entfernen wollte, bestand der Bundestag auf die Erhaltung des Gekritzels der Eroberer: »Grüße nach Leningrad, Sieg und Ehre der sowjetischen Armee, für Leningrad haben sie voll und ganz bezahlt«. Beschimpfungen und Beleidigungen wurden entfernt.
Am 4. Oktober 1990, einen Tag, nach dem die Einigungsverträge unterschrieben waren, tagten Bundestag und Volkskammer gemeinsam in dem ehrwürdigen, historischen Gebäude.
Die Seitengänge führen an den Verfügungsräumen, deren Nutzung Kanzlerin, Parlamentariern sowie den Fraktionen vorbehalten sind, vorbei. Hier wird die politische Arbeit durchgeführt. Gesetzestexte werden erarbeitet und Entscheidungen vorbereitet. Immer wieder kommen wir an Kunstwerken vorbei. 19 Kunstschaffende, unter ihnen Joseph Beuys, Jenny Holzer und Gerhard Richter regen den Betrachter zum Grübeln, Genießen, bewundern oder Kopfschütteln ein.
Im Ruheraum oder Andachtshaus fällt das Nachdenken leichter. Er ist häufig leer. Auch hier wieder Kunst. Der Düsseldorfer Künstler Günther Ücker entwarf Holz- und Steintafeln mit archaischer Symbolik. Sehr schön, aber das ist ja Geschmacksache. Aus Bonn übernahmen die Politiker den Klang der Glocken des Kölner Doms als Aufruf zum Gottesdienst. Unsere Parlamentarier sollten diesen Raum, denke ich, ab und zu benutzen. So manch eine Entscheidung wäre bestimmt besser durchdacht.
Endlich sitzen wir im Plenarsaal. Hier finden die Debatten statt, der verbale Schlagabtausch über gegensätzliche Ansichten und Gesetze werden beschlossen. Der Saal umfasst 1.200 qm. Derzeit ist Platz für die Regierungsmitglieder, 630 Abgeordnete, Mitglieder des Bundesrats, und Europaabgeordnete, Pressetribüne, Fotografenplätze und drei Tribünen für angemeldete Bürger. Einsam und ausgegrenzt aus den Abgeordnetenreihen steht der »Katzentisch«. Die inzwischen parteilose Erika Steinbach macht es sich hier gemütlich.
Der imposante Kuppelbau, wieder einmal von Foster nicht gewollt, symbolisiert Herrschaft des Volks. Schnell zum Wahrzeichen des Bundestags geworden, sorgt er im Plenarsaal für »Lichtblicke« und befördert die »dicke Luft« durch den bis ins Plenum reichenden Trichter nach draußen. Das ist bei der Entscheidungsfindung hilfreich. Die Kuppel ist für Besucher begehbar, Spiegel sorgen für großartige Effekte und verstärken das Tageslicht im Plenarsaal. Oben angekommen verwöhnt ein grandioser Blick über die Stadt. Wirklich schön!
Tipp 1: Eine Führung durch das Gebäude ist sehr interessant, kostenlos und unbedingt im Voraus zu buchen: www.bundestag.de/besuche/formular/249314.
Tipp 2: Der Besuch der Dachterrasse/Restaurant und Kuppel ist kostenlos. Unbedingt über die Website www.bundestag.de/besucher anmelden. So vermeidest du lästige Wartezeiten und verlierst keine Zeit. Ansonsten ist der Besuch nur möglich, wenn freie Kapazitäten vorhanden sind.
Tipp 3: Innehalten, Reflektieren, Hinterfragen: Holocaust-Denkmal, Cora-Berliner-Straße 1, www.holocaust-mahnmal.de.
Denkmal für die im Nationalismus verfolgten Homosexuellen, gegenüber dem Holocaust-Denkmal - Ebertstraße. Beide Denkmale sind problemlos zu Fuß vom Reichstag erreichbar.
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Werner Gollbach (Donnerstag, 04 Mai 2017 10:55)
Hallo Henri, beim Lesen deines sehr spannenden und informativen Reiseberichts nach Potsdam und Berlin sind mir wieder eigene Erlebnisse von einer früheren Reise lebendig geworden. Unser Sohn Thomas und unsere damals 92 jährige Tante haben vor einigen Jahren eine ähnliche Reise nach Potsdam und Berlin mit mir unternommen. Wir waren damals auch sehr begeistert und ich denke noch heute gerne an diese Reise zurück. Nochmals herzlichen Dank für die schönen Erinnerungen!