Berlin - Gedenken, Mohren und die dunkle Verführung

East Side Gallery
Foto: Pixabay - Betexion

Autor: Henri du Vinage

Deutschland

November 2020

Aus dem Berliner Umland direkt in die Stadtmitte. Kontrastprogramm und Zeit zum Gedenken. Wir beabsichtigen, da nicht nur vorbeizulaufen, weil alle sagen, das musst du gesehen haben. Ob wir in der Lage sein werden, das Leid zu spüren?

In unmittelbarer Nähe zueinander liegen drei Gedenkstätten. Sie weisen auf Tod,  Schmerz und Elend von 6-7 Millionen Menschen hin. Hass, Anschläge auf Synagogen und andere Einrichtungen, Attentate auf Ausländer und Politiker nehmen zu. Fehlgeleitete Verschwörungstheoretiker, theokratische Fanatiker, Identitäre und Nationalisten äußern sich schamlos und verachtend über Andersdenkende. Haben wir nichts dazu gelernt? Es ist Zeit zur Besinnung zu kommen.

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Schweigend wandeln wir durch quaderförmige Beton-Stelen auf gewelltem Boden. Der Grundriss aller Quader ist gleich, jedoch variieren die Höhen von ebenerdig bis etwas über vier Meter hoch. 2711 Blöcke sind auf 19.000 m² Bodenfläche untergebracht. Wo führen die Wege hin? Symbolisieren die Klötze Gräber? Ich fühle leichten Schwindel. Immer wieder gab es Ansätze, das Denkmal zu erklären, Auseinandersetzungen über Bau und Gestaltung, aber wir lassen die Gedanken schweifen. Unsere Herzen schlagen wütend zwischen den Betonklötzen. Wie kommen wir heraus? Und endlich sind wir wieder in Freiheit.


Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

Das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

Am Rand der Parkanlage des Tiergartens, gegenüber des Mahnmals für die ermordeten Juden, ragt der Erinnerungsquader knapp vier Meter in die Höhe. Das Glasfenster gab einmal den Blick frei auf einen Film in Endlosschleife. Die Scheibe ist gesprungen. Ein Anschlag und Beleg für das immer noch fehlende Verständnis und die Akzeptanz von Homosexuellen? Eine Tat von wenigen Hassern oder die Wahrheit über das Gedankengut großer Teile der Gesellschaft? Zeit zum Nachdenken.

Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma

Zehn Minuten Fußweg durch den Tiergarten und in unmittelbarer Nähe des Reichstages treffen wir auf die Gedenkstätte. Das Rund des Wasserbeckens symbolisiert die Gleichheit, das Wasser die Tränen und das Dreieck in der Mitte des Beckens steht für den Winkel, welcher auf die Kleidung der Häftlinge genäht war, um sie für  die Gaskammern zu kennzeichnen.

Wir wenden uns ab, wandern durch die friedliche Parkanlage und sind glücklich, dass wir heute leben. So etwas darf nie wieder passieren und trotzdem schaut die Welt, die Politik und Wirtschaft unbeteiligt zu.

Mauerdenkmal Berlin
© Stiftung Berliner Mauer, Foto J. Hohmuth

Gedenkstätte Berliner Mauer

Mit unserer BVG-Wochenkarte fahren wir in wenigen Minuten zur Gedenkstätte Berliner Mauer. Ausstieg mit der S-Bahn, Nordbahnhof oder mit der U-Bahn, Bernauer Straße. „In Erinnerung an die Teilung der Stadt vom 13. August 1961 bis 9. November 1989 und zum Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft“, lautet die Inschrift am Denkmal. Ein Ort zum Hinterfragen, Besinnen und zur Reflexion auf das Heute. Die Fotos der Fluchten aus den Häusern, welche anfangs direkt auf dem Grenzstreifen standen, sind uns von Filmberichten und Zeitungen geläufig. Tunnel wurden ausgehoben. Insgesamt verloren 140 Menschen zwischen 1961-1989 an der Berliner Mauer das Leben. Die Gedenkstätte gliedert sich in vier Bereiche: die Mauer und der Todesstreifen, die Zerstörung der Stadt, der Bau der Mauer und Alltag an der Mauer. Die Grenze verlief über den Friedhof der Sophiengemeinde, so dass dieser 1961 versetzt wurde. Ich stehe davor und schüttele den Kopf. Stille kehrt am „Fenster des Gedenkens“ ein, begleitet von innerer Unruhe, Entsetzen und Traurigkeit. Die Opfer, Menschen wie du und ich, Familie, Freunde oder Bekannte – erschossen, ermordet und wir lebten nur einen Steinwurf entfernt.

Kübelwagen
© Stiftung Berliner Mauer, Foto:Detlef Gallinge, Berlin 1990
©Stiftung Berliner Mauer, Foto: Detlef Gallinge 28.01.1985
©Stiftung Berliner Mauer, Foto: Detlef Gallinge 28.01.1985

Die Maueropfer
Fenster des Gedenkens - © Stiftung Berliner Mauer, Foto: J. Hohmuth

East Side Gallery

Fünf Kilometer weiter, in eineinhalb Stunden durch die Stadt gebummelt oder in wenigen Minuten mit der S-Bahn zum Ostbahnhof gerollt, begrüßen uns bunte, knallige, nachdenkliche, anklagende, weltverbessernde und politische Motive auf Mauerresten an der Spree. Ausgiebig streifen wir an der 1316 Meter langen und bemalten East Side Gallery in Berlin-Friedrichshain entlang. Über 100 Künstler aus der ganzen Welt haben sich dort verewigt. Seit Oktober 1989 hatten DDR-Kunstschaffende kein Einkommen mehr. West- und Ostkünstler schmiedeten ein gemeinsames Projekt, die East Side Gallery. Mehrmalige Sanierungen, Rechtsstreitigkeiten, Farbschmierereien und Zuständigkeitengerangel führten dazu, dass 2018 das Eigentum an die Stiftung Berliner Mauer übertragen wurde.

Von der Mauergalerie betrachten wir auf die Ende des 19. Jh. im neugotischen Stil erbaute Oberbaumbrücke. Schon 1902 wurde der Bahnbetrieb  aufgenommen. Heutzutage überquert die U-Bahn den Fluss und wir überschreiten die Spree im Kreuzgang des Bauwerks. 

Die Sommerzeit wird von den Berliner Verkehrsbetrieben genutzt Bahnhöfe und Schienennetz zu reparieren. Obwohl Ersatzverkehre auf der Straße eingerichtet sind, stehen wir manchmal auf dem Schlauch und wissen nicht, wie es weitergeht. Dabei lernen wir, dass die Bahnstationen mit liebevoll klingenden, berlinerischen Namen von den Bewohnern getauft wurden. Kottbusser Tor heißt Kotti und der Görlitzer Bahnhof wurde umbenannt in Görli. Auf zum Kotti. Da steigen wir um zum Witti (Wittenberger Platz), weil da unser Auti steht. Ein Nissi aus Japan.

In der Umgebung der U-Bahnstation Mohrenstraße finden wir einen Parkplatz. Mohrenstraße, dieser Name empört uns. Wir rufen uns den immer noch gelebten und nicht ausgerotteten Rassismus ins Bewusstsein. Auf der Stelle googeln wir und stellen fest, dass es diesen Namen seit 1707 gibt. Wikipedia berichtet von verschiedenen Varianten zur Benennung, die uns aber nicht logisch erscheinen. Wir wissen es nicht. Fest steht jedoch, dass während der brandenburgisch-preußischen Kolonialzeit zwischen 1682-1717 aus Westafrika junge Männer auf Befehl des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg verschleppt wurden, um am Hofe als Sklaven zu dienen. Vielleicht „wohnten“ sie in dieser Gegend. Vor einigen Wochen entschied die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte die Umbenennung der Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Amo wurde 1700 in Ghana geboren und als Kleinkind Herzog Anton Ulrich zu Braunschweig geschenkt. Er entwickelte sich zum ersten Philosophen und Rechtsgelehrten afrikanischer Herkunft. 1747 verließ er Deutschland, um rassistischer Hetze zu entkommen. Die Berliner Verkehrs Gesellschaft, BVG, beantwortete meine Anfrage zum Thema der Namensänderung des U-Bahnhofs Mohrenstraße nicht.

Wir sind sehr überrascht, dass Karl Marx von 1837-1838 zur Zeit seines Studiums in Hausnummer 17 wohnte. 1933 wurde das Hinweisschild von den Nazis entfernt. Der Hinweis fehlt immer noch. 

Foto: Rausch GmbH, Berlin
Foto: Rausch GmbH, Berlin

Zum Abschluss unseres Tagesausflugs schütteln wir die Ernsthaftigkeit des Tages ab und kitzeln unsere Gaumen, Geruchs- und Geschmacksnerven mit den Bouquets des aus der Kakaobohne gewonnenen „xocóatl“, wie die Azteken pflegten zu sagen. Mit Zucker und anderen Aromen wird daraus die Schokolade. Schokolade über alles, heiß oder kalt, fest oder flüssig.

Unser Ziel ist der Flag-Shop von Schokoladenrausch am Gendarmenmarkt. Er macht seinem Namen alle Ehre. Wirklich berauschend. Im Erdgeschoss überrascht uns Schokoladenkunst. Wie duftet die glücklichmachende Schokolade? Als Liebhaber dunkler Schokos erschnuppere ich sofort erdige und vanillehaltige Aromen mit einem Schuss Alkohol, vielleicht Rum. Skulpturen aus dem Stoff des vollständigen Genusses zeugen von der Liebe zum Handwerk, zur Kunst und zum Detail. 

Über 1.500 m² lassen uns staunen: Shop mit Nachbildungen des Brandenburger Tors (485 kg Schoko), Reichstags (288 kg Schoko) und der Titanic (265 kg Schoko). Die längste Pralinentheke der Welt, Praliné-Freunde treiben der Duft und die schokoladigen Kreationen schier in den Wahnsinn. Himmel und Hölle zu gleich. In der 1. Etage die Live-Patisserie und Manufaktur (war coronabedingt leider geschlossen) und das Café mit einer Auswahl feinster Pralinen, Törtchens, Desserts und Trinkschokoladen, wie sie in Deutschland selten zu bekommen sind. Wir genießen die Leckereien, den Blick auf den Gendarmenmarkt, das Treiben auf den Straßen und schlürfen den himmlischen Kakao mit leckeren Tartelettes.

Foto: Rausch GmbH, Berlin
Foto: Rausch GmbH, Berlin
Foto: Rausch GmbH, Berlin
Foto: Rausch GmbH, Berlin

Tipp 1: Wirtshaus Halali, Königstraße 24, 14109 Berlin

„Hier beginnt Ihr kleiner Österreich-Urlaub – mitten in Berlin Wannsee“. Typische österreichische Speisen, kompetenter, hilfsbereiter Service mit Wohlfühlcharme. Reservierung empfehlenswert.

Ist auf dem Weg zum Wannsee oder nach Potsdam. Immer einen Stopp wert.

Tel.: 030-8053125, info@halali.de

https://www.wirtshaus-halali.com

 

Tipp 2: Rausch Schokoladenhaus, Charlottenstraße 60, 10117 Berlin

Berauscht von Schokoladen, Cafés und Törtchen.

Tel.: 030-757 880, service@rausch.de

https://www.rausch.de/schokoladenhaus

Kommentare: 2
  • #2

    Gerhard (Samstag, 28 November 2020 17:40)

    Danke Dir, Henri, Deine Beiträge lassen Wehmut aufkommen, locker reisen, erleben, staunen, all das fehlt uns schon.
    Durchhalten ist angesagt, ich wünsche Euch Geduld und weiterhin Gesundheit,
    Gerhard, KL

  • #1

    Thomas Bähre (Samstag, 28 November 2020 09:56)

    Ein wirklich gelungener Beitrag, der zum Nachdenken und zur innerlichen Einkehr anregt!