Auf der Walz - mit einem Tippelbruder in Berlin Treptow

Treptow-Köpenick
Spreeufer

Autor: Henri du Vinage

Deutschland

September 2021

 

Immer wieder lese ich über den Berliner Bezirk Treptow-Köpenick in den Zeitungen. Die Schlagzeilen lauten etwa so: „Treptower Park nachts gesperrt“, (Berliner Abendblatt, 31.08.21). „Schicht im Treptower Park“, (TAZ, 30.08.21). „Plänterwald: Hier wird das Riesenrad im Spreepark abgebaut“, (Berliner Kurier, 08.01.21). „Sowjetisches Ehrenmal zum Tag des Sieges geschändet“, (Berliner Morgenpost, 08.05.19). Bad News lassen sich bekanntermaßen immer gut verkaufen, doch diese Fakten waren mir nicht bekannt: Treptow-Köpenick zeichnet sich durch den höchsten Wald- und Wasseranteil aus und insbesondere lädt der Müggelsee, Berlins größter See, zu Wassersport und Freizeitaktivitäten ein.

Die Badegäste amüsieren sich im Strandbad. Abseits der touristischen Pfade bietet der Stadtteil mit seinen 15 Ortsteilen viel zu entdecken. Mehr darüber in den Tipps.

Bei diesem Kurztrip bleibt uns leider nicht die Zeit tiefer in den Bezirk einzusteigen und so beschränken wir uns auf das Kriegerdenkmal im Treptower Park und das Spreeufer. Das Ehrenmal wurde 1949 auf Wunsch und Befehl der Sowjetunion erstellt. Bei der Eroberung Berlins fielen 80.000 sowjetische Soldaten. 7000 von ihnen wurden hier bestattet. Immer wieder kommt es an den Denkmälern zu Schändungen. Wir spazieren andächtig durch die Anlage und reden über die Grausamkeiten und die vielen Toten dieses Wahnsinns. Wir im Frieden geborene Nachkriegskinder, vermögen es nicht, uns diese unerträgliche Anzahl von ermordeten Menschen vorzustellen. Weltweit fanden zirka 50 Millionen Soldaten und Zivilisten, den Tod. Eine Tafel weist auf 27 Millionen tote Sowjetbürger hin. Bei meiner weiteren Recherche stoße ich auf 13,5 Millionen ermordete Chinesen, Inder, Deutsche, Polen und Opfer der Naziverbrechen, 6 Millionen Juden, Roma/Sinti, Häftlinge, Zwangsarbeiter, Deportierte und Euthanasieopfer. Die Todesliste kennt kein Ende. Schweigend schreiten wir das Mahnmal ab und diskutieren über Krieg und Frieden, die NATO, 2% Militärausgaben, Drohneneinsätze, Afghanistan, Syrien und die Unvernunft der Menschheit. Die in Stein gemeißelten Kampfszenen von Soldatenhelden erschrecken uns. Die übertrieben heroische Darstellung des russischen Soldaten, der ein Kleinkind rettet (eine angeblich wahre Begebenheit während der Kriegswochen in und um Berlin) verstärkt die Gedanken des Grauens. Immer wieder das gleiche manipulative Spiel: die Guten und die Bösen. Erleichtert verlassen wir das Gelände. 


Zimmermann in Kluft
© adobe

Die dunkle Wolke der Vergangenheit zieht an uns vorbei und sobald wir am belebten Ufer der Spree sind, kehrt die Fröhlichkeit in unsere Herzen zurück. Kinder hopsen auf der Promenade herum, Radfahrer weichen den Fußgängern aus und umgekehrt. Ausflugsdampfer, Hausboote und Yachten schaukeln in den Flusswellen und an den Kiosken schlecken die Spaziergänger Eis, essen Pommes, Currywurst oder Thaispezialitäten und trinken Bier, Radler oder Cola. Das Heileweltgefühl schleicht sich ein und unsere Mägen grummeln. Am Thaistand bestellen wir Curries und alkoholfreies Pils. Ein herrlicher Sonnentag mit einer leichten Brise vom Meer, sorry, vom Fluss, verwöhnt uns. Ein Handwerker in Kluft spaziert vorbei. Der Schlapphut mit der breiten Krempe verdeckt sein Gesicht, weißes Hemd und schwarze Veste mit glänzenden Knöpfen, sowie die Schlaghose wirken sauber und elegant. „Schaut ’mal, ein Schornsteinfeger“, stellt meine Frau fest und will sich schon korrigieren, da dreht sich der Mann um: „Nein, ich bin Zimmermann und auf der Walz.“ Selbstsicher und erfahren erklärt er seine Tracht: „Unsere Zunft erkennt ihr an den Knöpfen und dem Gürtelschloss. Die acht Perlmuttknöpfe an der Weste sind mit unserem Zunftzeichen verziert und stehen für acht Arbeitsstunden am Tag und die sechs Knöpfe an der Jacke, auch mit dem Zunftzeichen, stehen für sechs Arbeitstage.“ Später stellt er sich mit seinem Künstlernamen Jockel vor und führt weiter aus: „Nach der Wende gab es nur noch 200 Wandergesellen von allen Zünften. Jetzt sind wieder 1.500 unterwegs und ich finde es ganz toll, dass auch immer mehr junge Frauen den Mut haben.“ Wir lauschen gespannt: „In der Schweiz traf ich eine 23-jährige Frau, die Freskenmalerin war. Sie zeigte mir Fotos von ihrer Arbeit. Ganz toll. Echte Kunst. Die Mädchen sind heute erstklassig ausgebildet. Meine Tochter war auch drei Jahre unterwegs und hat den Familienbetrieb übernommen, deshalb konnte ich jetzt los. Zu DDR-Zeiten durften wir nicht. Wohin auch?“ Der Zimmermann beschreibt die Rituale und einige der vielen Sprüche. Wenn die Tippelbrüder ihre Arbeit anbieten, nennen sie keinen Preis. Der potentielle Arbeitgeber macht ein Angebot. Ist es inakzeptabel, verabschiedet sich der Handwerker höflich. Mit folgenden Worten nimmt er das Offerte an: „Ich zieh’ den Hut vor ihnen“, und per Handschlag wird das Geschäft besiegelt. „Daher kommt das Sprichwort.“ Jockel erklärt uns den Brauch: „Bevor es auf die Walz geht, wird der Hut getauft. Diesen darfst du nur vor Gott oder Leuten, die dich gut behandeln abnehmen.“

Bis ins 20. Jahrhundert mussten die angehenden Zimmerleute auf die Walz gehen, um die Meisterprüfung zu bekommen. Heute geben die Gesellen das Wanderbuch, mit den Eintragungen von ihren Arbeiten beim Zunftgericht ab, welches sich aus Meistern und Altgesellen zusammensetzt. Nach erfolgreicher Prüfung dieser Arbeitsnachweise belegen die Meisteranwärter einen viermonatigen Kurs über Finanzen, BWL, Buchhaltung und Steuerrecht. „Das ist ein hochwertiger Meistertitel“, ergänzt unser Tischgast.

Seit 2015 ist die Handwerkgesellenwanderchaft (was für ein Wort) in der UNESCO, als „Immaterielles Kulturerbe“ aufgenommen. Zwei Stunden lauschen wir Jockel, der von seinen Einsätzen bei den indigenen Völkern in Brasilien, von Projekten in Asien und Afrika erzählt. Immer wieder erwähnt er die Sprüche. Begegnen sich zwei Wandergesellen, begrüßen sie sich mit: „Frisch getippelt – frisch gedankt.“ Zum Abschluss erzählt er über die Freisprechungsrituale (bestandene Prüfung): „Da musst du einen 100er Nagel mit dem Hammer mit drei Schlägen in einen Hackklotz einschlagen. Für jeden Schlag mehr gibt es ordentlich auf den Hintern. Nach bestandenem Examen wird dir mit einem Nagel ein Loch ins Ohrläppchen geschlagen. Für den Ohrring. Das tut nicht weh. Da sind keine Nerven.“ Die haben aber Nerven, denke ich mir.

„Das möchte ich euch noch sagen“, holt Jockel zu weiteren Erklärungen aus. „Wir sind alle über die Zunft sozialversichert. Jedes Zunftmitglied ist verpflichtet, 5 % des Einkommens einzuzahlen. Daraus wird Kranken- und Rentenversicherung finanziert. Ein System, welches es schon vor den modernen Sozialvericherungssystemen gab.“

Gerne hätten wir dem Zimmerer weiter zugehört, Fragen gestellt und wären gedanklich in diese für uns ungewöhnliche Welt eingetaucht.

Jockel verabschiedet sich: 

 

„Mit Gunst und Verlaub,

Ich bin ein rechtschaffen, fremdreisender Gesell,

Darf ich es wagen,

Nach einer kleinen Spende für Kost zu fragen.

Gott schütze Sie,

Denn treue Christen denkt daran,

Der Herr zu dem Ihr betet,

War auch ein Zimmermann.“

 

Aus Dankbarkeit für seine Zeit und die eloquente, selbstbewusste Ausstrahlung sowie die aufschlussreichen Erklärungen drücken wir ihm ein Scheinchen für Speis’ und Getränk’ in die Hand.

 

Tipp 1: Informationen über die Zunft (Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen):

https://www.rechtschaffene-zimmerer.de

 

Tipp 2: Mehr zum Erlebnisbezirk Treptow-Köpenick:

https://www.berlin.de/ba-treptow-koepenick/ueber-den-bezirk/treptower-park

 

Tipp 3: Berlin für alle Berliner Bezirke:

https://www.visitberlin.de/de/stadtteile-berlin

App:

https://www.visitberlin.de/de/about-berlin-app

 

Tipp 4: Weitere Reisebriefe über Berlin und Umland

Brandenburg-Kunst und Natur

Gedenken, Mohren und die dunkle Verführung

Palazzo Barberini in Potsdam

Der Reichstag

 

Tipp 5: Das portugiesisch-spanische Restaurant ist zwar im Berliner Bezirk Wilmersdorf, aber für Fischgerichte und typische iberische Küche sehr zu empfehlen. 

http://www.restaurant-a-telha.de

Kommentare: 5
  • #5

    Erhard Bauswein (Donnerstag, 14 Oktober 2021 17:43)

    Lieber Henri, das ist mal wieder eine muntere und informative Erzählung, als wäre man dabei gewesen; ganz typisch für Henri! Wenn ich mich richtig erinnere, waren solche "Wandergesellen", wie man sie damals nannte, all die letzten Jahre in Deutschland anzutreffen. Ich glaube, es war in den 1980er Jahren, wo mir das auffiel. Da habe ich mich gewundert, dass trotz der zunehmenden Maschinisierung solche echten Handwerker doch noch unterwegs sind.
    Viele Grüße, Erhard

  • #4

    Reinhold Klein (Mittwoch, 06 Oktober 2021 13:45)

    Ein äußerst interessanter Bericht! Ich denke, die Haltung und der Umgang der Wandergesellen mit den Handwerkern und natürlich auch mit den Menschen auf ihrem Weg ist nachahmenswert. Es würde nicht schaden, wenn solche Traditionen Verbreitung auch wieder in anderen Bereichen finden würden. Ich denke dabei insbesondere an mündliche Absprachen und Verträge - hier per Handschlag. Was mich auch beeindruckt hat ist die Form und Abwicklung der Sozialversicherung. Alles basiert irgendwie auf einer Vertrauensebene.

  • #3

    Horst Joachim Kerwien (Montag, 04 Oktober 2021 12:23)

    Lieber Henri, danke für die nette Story. In Köpenick war ich vor Jahren und fand vor dem Rathaus eine Bronzeplastik des Hauptmann von Köpenick. Die Gedenkstätte ließ ich links liegen, weil ich mir den Tag nicht verderben wollte.
    Viel Grüße Horst

  • #2

    Werner Gollbach (Montag, 04 Oktober 2021)

    Hallo Henri, vielen Dank für den sehr in und informativen Reisebericht. Leider gibt es für Elektriker nicht die Tradition der Walz. Wäre sicherlich ein interessantes Erlebnis geworden.
    Liebe Grüße
    Werner

  • #1

    Peter Schniz (Montag, 04 Oktober 2021 08:16)

    Lieber Henri, danke für deinen Bericht aus Berlin. Treptow will ich mir demnächst auch mal genauer ansehen.
    Danke auch für den interessanten Einblick in die Welt "Auf der Walz".
    Liebe Grüße Peter